Illustrierter Braunauer-Kalender für das Jahr 1904 - Seite 39

Buchtitel
Illustrierter Braunauer-Kalender für das Jahr 1904
Buchbeschreibung
Kalender und Adressbuch für die Gerichtsbezirke Braunau, Mauerkirchen, Mattighofen und Wildshut.
Fortlaufende Paginierung
39
Original-Paginierung
35 (Arabian)
Werbeseite
nein
Kategorie
Hauptteil
URN
urn:nbn:at:AT-OOeLB-1233029
Content
35 Noch immer rasen die Pferde an ihren Ketten; jetzt ertönt das Pfeifen allenthalben; vor den Knappen, hinter ihnen, zu beiden Seiten, über ihnen, wie das grause Geheul Verdammter; schwül weht der Wind von der Ruhr herein und bringt verlorene Klänge von fernen Glocken mit in den Schooß der Erde. „Gott fei uns gnädig!" ruft der alte Dönhoff. „Das sind die Glocken von I Baldeney." Wer die in den Stollen der „Wasserschneppe" hört, dem sitzt der Tod im Nacken. Denn dann steht ein schweres Unwetter über der Ruhr, das die giftigen Schwaden aus den Bergen preßt — so lautet die Sage. „Flieht!" schreit Karl in angstvoller Verzweiflung. „Bei den Pferden brennt offenes Licht!" Da kommt Bewegung in die Dönhoffs; das bedrohte Leben strömt feine ganze Kraft in ihre Glieder. Sie stürzen vorwärts zum Hauptstollen; die Dunkelheit kann sie nicht hindern, denn jeder Zoll des Weges ist ihnen bekannt. Ein Wettlauf beginnt, ein Rennen auf Tod und Leben. Hinter ihnen schreit das Verderben in gräßlichen Tönen; vor ihnen liegt die Freiheit, die Rettung. Viertausend Schritt! An der gemauerten Seitenwand rauscht das Wasser in der Seige. Eiskalte Tropfen sickern aus dem Fels zu ihren Häupten und mischen sich mit dem Angstschweiß ihrer Stirnen. Das Toben der Pferde ist kaum noch vernehmlich und der Glockenklang drang von Minute zu Minute voller an das Ohr der Lauschenden. Der alte Dönhoff ist schon klafterweit hinter den jugendstarken Söhnen zurückgeblieben. Da kriecht es wie kaltes Gewürm an seinen Füßen herauf — die schlagenden Wetter haben ihn eingeholt und pressen die schwüle, von draußen hereinströmende Gewitterluft nach oben. „Lauft, lauft!" keucht er und beginnt stammelnd in Todesangst den Bußpsalm zu beten. „Aus der Tiefe rufe ich zu Dir, Herr, erhöre meine Stimme!" Plötzlich setzt das Pfeifen und Heulen der Wetter aus und es wird todtenstill, ein fahles Leuchten huscht blitzschnell über die feuchten Wände — er hört die Jungen weiter vor sich laufen, sie müssen bald am Ausgang des Stollens sein — da stolpert er über einen Stein am Boden und stürzt in den weichen Schlamm, der den Grund bedeckt — krachender Donner rollt heran, prasselnd geht hinter ihm ein Teil des Stollens zu Bruch, eine blutrote Flamme, viel hundert Schritt lang, fährt über ihn weg, seine Kleider brennen, Haar und Bart knistern versengend; stechend dringt der giftige Nachschwaden in seine Lunge — der alte Dönhoff ist todt. Heinrich und Karl haben eben den Ausgang erreicht, als die Flamme wie ein grimmiger Drache aus dem Mundloch des Stollens herausfährt und ihnen verkündet, daß der furchtbarste Bergmannstod, dem sie mit knapper Not entkommen, den Vater hinweggerafft hat. Weinend sinken Beide in's regennasse Gras des waldigen Hanges. Im Tale rauschen die angeschwollenen Wellen der Ruhr; noch flammt der Wetterschein über den Höhen, aber die Macht des Gewitters ist gebrochen. Die Wälder säuseln im Abendwind, die Glocken von Baldeney klingen so feierlich, fern auf der Landstraße singen heimkehrende Beerensucher ein altes, schwermütiges Volkslied; es ist, als schritte, der Frieden auf leisen Sohlen segenspendend durch die niedersinkende Dämmerung. Heinrich erhob sich zuerst; seine Züge waren noch bewegt, aber ein fremdes Etwas lag in ihnen, was nicht auf große Trauer deutete. 3*
 
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