Illustrierter Braunauer-Kalender für das Jahr 1904 - Seite 102

Buchtitel
Illustrierter Braunauer-Kalender für das Jahr 1904
Buchbeschreibung
Kalender und Adressbuch für die Gerichtsbezirke Braunau, Mauerkirchen, Mattighofen und Wildshut.
Fortlaufende Paginierung
102
Original-Paginierung
98 (Arabian)
Werbeseite
nein
Kategorie
Hauptteil
URN
urn:nbn:at:AT-OOeLB-1233657
Content
T m 98 macht das matte Licht im Zimmer, Exzellenz." „Nein, Sie müssen sich schlafen legen, liebe Schwester, Sie sind sehr ruhebedürftig. Es soll Sie mein Bedienter oder sonst wer ablösen, hören Sie, Schwester?" Als sie nicht gleich Miene machte, zu gehorchen, richtete er sich einen Augenblick im Bette auf und wies sie hinaus aus dem Zimmer. Er fiel aber wieder bald zurück ächzend und stönend. — Mit einem raschen Satze war die Schwester beim Bette und sagte: „Soweit sind wir noch nicht, Exzellenz, daß Sie sich so aufregen dürfen. Ich werde schön folgen und gehorsam sein, wenn sich Exzellenz wieder ruhig niederlegt und liegen bleibt." Und sie hielt ihn mit einer Hand etwas in der Höhe, mit der anderen richtete sie das Kopfpolster zurecht. „So, Exzellenz, jetzt bitte wieder ruhig weiter zu schlafen, es ist schon spät. Wenn man krank ist, muß man schön folgen und nur auf sich selbst denken." Der Kranke stieß einen schweren Seufzer aus und blieb ruhig liegen. Die Schwester ging hinaus in das anstoßende Zimmer und betete wieder weiter. Es mochten 10 Minuten vergangen sein, als die Schwester wieder nachschaute. Der Kranke lag wach im Bette. „Sagen Sie mir, Schwester, wie lange sind Sie schon bei den Kranken?" fragte er. „Vor fünfundzwanzig Jahren bin ich gerade am Neujahrstage zum erstenmate als Krankenwärterin verwendet worden, heute vor 25 Jahren." „Sv ist heute schon Neujahr?" „Seit einigen Minuten." Vor dem Hause brüllten einige Betrunkene „Prosit Neujahr". Der Kranke erschrak. „Wie gut sind Sie, Schwester, gegen mich — ich' habe Ihnen viel zu schaffen gemacht. So lange bin ich schon krank. 25 Jahre in den Krankenstuben! Schrecklich, fürchterlich, Tag und Nacht immer um Kranke sein müssen. Und was bekommen Sie dafür?" „Ich,. nichts — Gott wird mir's einmal lohnen, wenn ich meine Pflicht erfüllt und den Kranken etwas Gutes getan habe." Der Minister schüttelte mit dem Kopfe und drehte sich auf die andere Seite. Die Schwester wollte sich entfernen. „Bleiben Sie bei mir, Schwester, Ihre Nähe tut mir so wohl — einige Minuten noch, dann aber müssen Sie schlafen gehen," flüsterte wieder der Kranke. „Tun Sie das alles gern, was Sie an den Kranken tun, oder . . . ." „Exzellenz, da müßte ich keine Lieb' im Herzen zu Gott und den Menschen und kein Herz im Leibe haben, wenn ich nicht täte, was ich tun kann, für die armen, hilflosen Kranken. O Exzellenz, es gibt so Viele, die Niemanden haben, der ihnen helfen würde. Niemanden, denen am Kranken, an seinem Leben ober an seinem Sterben etwas liegt, keine Mutter, keinen Vater, keine Geschwister, keine Frau, keine Kinder, keine Freunde — und die es scheinen, sind es nicht. Darum sind mir auch die ärmsten und verlassensten Kranken die liebsten, und ich bete auch alle Tage zu Gott, daß ich einem solchen armen Geschöpfe meine Hilfe und meinen Trest anbieten kann," sprach feurig die Schwester. Des allmächtigen Ministers Augen waren feucht geworden. Er hieß die Schwester schlafen gehen. Sie ging wieder in das Vorzimmer. Nicht lange darnach klopfte der Freiherr wieder an die Mauer. Philomena stand wieder vor feinem Bette. „Bleiben Sie doch lieber bei mir, Schwester, ich fürchte mich allein, ich fürchte mich fast vor mir selber. Sie müssen mein Schutzgeist sein. Sie haben ein so edles Herz." „Nichtwahr, es ist heute Neujahrsanfang?" nahm er wieder das Wort und lächelnd streckte er seine abgezehrten Arme aus, um der Schwester zu gratulieren. So weit und lange er zurückdachte, einen so aufrichtigen Glückwunsch, einen so vom Herzen kommenden Glückwunsch am wenigsten zum Neujahr hatte er noch nie dargebracht, auch nie — empfangen. Wie er vom Herzen kam, ging er auch zum Herzen. Eine schöne, eine der wertvollsten Perlen hatte sich aus dem Grunde des Herzens gelöst und eine große Träne rollte über das Aug^ der Schwester. Kein Diamant kann schöner strahlen, im schönsten, reichsten Lichtschmucke nicht, als diese 8 i i I ii
 
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