Illustrierter Braunauer-Kalender für das Jahr 1904 - Seite 101

Buchtitel
Illustrierter Braunauer-Kalender für das Jahr 1904
Buchbeschreibung
Kalender und Adressbuch für die Gerichtsbezirke Braunau, Mauerkirchen, Mattighofen und Wildshut.
Fortlaufende Paginierung
101
Original-Paginierung
97 (Arabian)
Werbeseite
nein
Kategorie
Hauptteil
URN
urn:nbn:at:AT-OOeLB-1233648
Content
97 schon längst aus einem Kloster gerufen und waltete mit engelgleicher Geduld und Liebe ihres aufreibenden Amtes. Was wird das Neujahr bringen? Das alte neigte zu Ende — unheimlich still schlich es im Exzellenzhause dahin — einige Stunden noch und er wird zu den Toten zählen. Wird es nicht etwa die Exzellenz mitnehmen? Fast schien es so. Die zu hoffen und zu fürchten haben, gehen aus und ein int Ministerhause. Den Kopf gesenkt oder stolz erhoben, huschen sie die teppichbelegten Gänge hinan in das Sprechzimmer. Weiter kommt keiner. Zum Minister haben nur Aerzte Zutritt und Schwester Philomena. Draußen brennen bereits die Gaslaternen, die Auslagefenster strahlen in wunderbarer Beleuchtung. Lachend, schauend, stauend wogt die schöne Straße entlang ein Menschenschwarm; hier ein lustiges Treiben am Sterbetage des alten Jahres, oben ein totes Leben am Neujahrsgeburtstag .... Die Minuten rinnen wie Blei zäh dahin; sie gehen und nehmen immer mehr Hoffnungen mit für die einen, die nächsten heben die der andern auf; es sind Börseminuten, nervenaufregend, markzehrend. Die Exzellenz hat das Maß verloren für Zeit und Raum. Das große Schlafzimmer scheint ihm immer kleiner, immer enger Stunden schwanden manchmal wie Minuten, dann aber wurden sie wieder lang, lang, wie Ewigkeiten. . . . Der Arzt steht mit der goldenen Sackuhr in der Hand neben dem Bette. Er mißt die Sekunden. Es war ein letzter gewagter Versuch. Die Krisis ist da. Wirkt sein Versuch, ist er ein — „neuer" Mann im alten Jahr, wenn nicht ein alter (abgetaner) im neuen. Der Kranke schläft etwas. Schwester Philomena kniet betend neben einem schönen Kruzifix und einer ebenso wertvollen Madonna. Ungeduldig schaut der Arzt auf die Uhr. Es ist nahezu 11 Uhr nachts. Der Kranke schlummert ruhig weiter. Man merkt, es vollzieht sich eine Aenderung in seinem Zustande Im Antlitze des Doktors zeigt sich eine wachsende Röte, im ganzen Benehmen eine gesteigerte Unruhe. Sein Auge ruht wie das eines Adlers auf der Beute des Todes. Aber sein Herz fühlt es, sein Verstand sagt, er werde die Exzellenz retten. Schweißtropfen treten hervor am Gesichte, am Halse des Kranken, das Fieber geht zurück — die Herztätigkeit nimmt zu. „Gott sei Dank! mein Herz hat mich nicht getäuscht," sprach der Doktor zu sich. „Schwester Philomena," wisperte er, „wir dürfen wieder hoffen. Exzellenz fängt an, zu genesen." „Dann habe ich vielleicht doch nicht umsonst gebetet, Herr Doktor!" gab sie flüsternd zur Antwort. „Ich gehe jetzt nach Hause, meine Gegenwart ist für eine kurze Zeit nicht nötig. Wir feiern in der Familie Syloesterabend, eigentlich Neujahrsgeburtstag. Ich werde ohnehin schon sehr vermißt worden sein. Wenn die Exzellenz aufwacht, trocknen sie ihm den Schweiß von der Stirne und suchen sie ihn zu trösten. Sie können ja so gut umgehen damit." Vor dem Hause war Stroh aufgehäuft, um das Geräusch der Wagen abzuschwächen; im ganzen Hause war jede Störung der Ruhe strenge untersagt. Trotzdem hörte die Schwester, wie sich's rührte in den stillen Räumen und nach einigen Minuten ein Wagen in raschem Laufe davonrollte. Nun war die Schwester allein mit dem Kranken. Auch der Kammerdiener hatte Urlaub für eine Stunde vom Doktor erhalten. Eben schlug es 12 Uhr an der Turmuhr, als der Minister erwachte. „Jetzt hat aber die Exzellenz gut geschlafen? jetzt wird's auch bald besser tverden," flüsterte freudig die Schwester. „Wünschen Exzellenz etwas? Ich werde Exzellenz die Schweißtropfen von der Stirne abtrocknen, Exzellenz haben ganz tüchtig geschwitzt, so, und im Gesichte und im Halse auch." „Schwester, Sie kommen mir heute ganz anders vor, wie früher. So blaß und abgemüdet. Sie müssen sich mehr schonen, Schwester Philomena," hauchte mehr als erschrocken der Kranke. „Das zu werden, so klein, so eng, wie eine 7
 
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